Von 2002 und bis zum Tod von Ilya Kabakov am 27. Mai 2023 lief eine künstlerische Zusammenarbeit des Kunsthaus Zug mit dem US-amerikanischen Künstlerpaar Ilya und Emilia Kabakov; sie wird mit Emilia Kabakov fortgesetzt.
Ilya Kabakov gehört zu den wichtigsten Künstlern der letzten Jahrzehnte. In der Sowjetunion war er offiziell als Kinderbuchillustrator erfolgreich tätig, während sein geheimes Atelier auf einem Dachboden das Zentrum des sogenannten Moskauer Konzeptualismus war. Seine erste Ausstellung hatte Kabakov in der Kunsthalle Bern (1985), noch bevor er in den Westen ausreisen konnte. Er wurde zu einem weltweit erfolgreichen und einflussreichen Installationskünstler und Autor, in enger Kooperation mit seiner Frau Emilia Kabakov, die in den 1970er-Jahren in die USA emigrierte. Beide lebten auf Long Island, New York. Im Spätwerk wandte sich Kabakov vermehrt der Malerei zu.
Ilya und Emilia Kabakov kamen für eine Ausstellung mit dem russischen Künstler Pavel Pepperstein und mit dem russisch-deutschen Philosophen, Kunsttheoretiker und Künstler Boris Groys erstmals ins Kunsthaus Zug: «Die Ausstellung eines Gesprächs» (2001) (siehe Pavel Pepperstein «Projekt Sammlung (4)» bzw. Ilya & Emilia Kabakov «Projekt Sammlung (0)»). Das Künstlerpaar wollte für eigene Projekte zurückkehren, woraus sich eine enge, jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Zug entwickelte. Ohne zeitliche Beschränkung und konzeptionelle Beschränkungen wurden vielfältige Unternehmungen realisiert: Ausstellungen, Werkkataloge, Werke im öffentlichen Raum, Veranstaltungen, Kooperationen mit der Kunstvermittlung, Planungen für die Kunsthauserweiterung. Zwei Installationen kamen als Schenkungen von Ilya und Emilia Kabakov in die Sammlung des Kunsthaus Zug.
Seit 1998 bestritt der Moskauer Künstler und Autor Pavel Pepperstein im Rahmen von Projekt Sammlung Ausstellungen mit Künstler:innen-Gästen aus Russland. Das Kunsthaus Zug wurde so zu einem europäischen Treffpunkt für russische Künstler und weckte in weiteren Kreisen ein Interesse für deren Tätigkeit.
Im Zusammenhang des Moskauer Konzeptualismus der 1980er-Jahre spielte das Gespräch eine zentrale Rolle und wurde zu einer Kunstform entwickelt. Der endlose Diskurs unter Künstlerfreunden wurde unter neuen Bedingungen verbal, literarisch und bildkünstlerisch fortgesetzt. In Zug trafen sich dazu Ilya Kabakov (New York), Boris Groys (Wien) und Pavel Pepperstein (Moskau). Der 2023 verstorbene Ilya Kabakov avancierte seit seiner Emigration in die USA Ende der 1980er-Jahre zu einem der weltbekanntesten Künstler und Boris Groys ist einer der namhaftesten Kunsttheoretiker und Kunstkritiker, war Rektor der Wiener Kunstakademie und Professor am Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, seit 2005 lehrt er an der Universität in New York.
Die drei, die seit Jahrzehnten eine enge Freundschaft verband, traten in Zug erstmals als Künstler-Trio auf. Sie konzipierten exklusiv für Zug eine Installation, die das gesamte Kunsthaus umfasste. Das im Museum ausgestellte Gespräch – ein Paradoxon – konnte als Metapher für das in der Gesellschaft nicht wirklich stattfindende Gespräch verstanden werden. Dabei ging es um Fragen wie die Rolle des Künstlers heute, seine Beziehung zum Museum und zur Gesellschaft, die Definition von Kommunikation, die Rolle der neuen Medien usw. Der an sich sekundäre Diskurs transformierte sich in ein primäres, künstlerisches Ausstellungsobjekt, das von Ilya Kabakov sowie von Wandzeichnungen Peppersteins «illustriert» wurde. Die von Boris Groys konzipierte Videoinstallation wurde vom Kunsthaus Zug für die Kabakov-Sammlung erworben.
Es erschien ein umfangreiches Textheft mit dem Gespräch von Boris Groys, Ilya Kabakov und Pavel Pepperstein («Zuger Gespräch», 2001), übersetzt von Gabriele Leupold, Berlin, erste Preisträgerin des Zuger Übersetzerstipendiums.
Dieses Projekt ist ein Teil der Projekt Sammlung Pavel Pepperstein, ein Langzeitprojekt, zu dem 2004 die Publikation «Pavel Pepperstein und Gäste» im Hatje Cantz Verlag erschien. Darin enthalten ist ein Foto-Essay des Schweizer Fotografen Guido Baselgia, welcher das insgesamt über fünf Jahre dauernde Projekt dokumentierte.
Im Rahmen einer Neugestaltung des Bahnhofplatzes schufen Ilya und Emilia Kabakov einen ungewöhnlichen Trinkbrunnen aus Carraramarmor – eine Schenkung der Wasserwerke Zug AG an die Zuger Bevölkerung und anlässlich ihres 125. Firmenjubiläums. In der schlichten und abstrakt anmutenden Form der Skulptur, stellt sich bei genauerer Betrachtung, ein männlicher Unterleib heraus. Auf Grund dessen kann die Skulptur als eine Anspielung auf Marcel Duchamps «Urinoir» oder als eine schalkhafte Neuinterpretation des «Manneken-Pis» in Brüssel gelesen werden. Das Künstlerpaar versteht das Objekt als wasserspendende Quelle und spielt ironisch auf den natürlichen Wasserkreislauf des Körpers an: Der immerwährende und unermüdliche Kreislauf von Trinken und Ausscheiden.
Die Skulptur, mit ihrer menschlichen Proportion vor der hohen Bahnhofsfassade befindet sich auf einem «anonymen» Platz. Der Brunnen steht auf einem tropfenförmigen Betonsockel, der von einem kleinen Rasenstück begrünt wird. Dadurch wird ein Stück Natur dahin gebracht, wo sie weitgehend fehlt. Wird das Fragment gedanklich ergänzt, passt die Ganzfigur grössenmässig zum Bahnhofsgebäude. Die Abstraktion der menschlichen Form erinnert ironisch an Werke von Hans Arp und Constantin Brâncuși, während die Materialität – Carraramarmor – an eine ältere Tradition, zum Beispiel von Michelangelo, anknüpft. Die Arbeit wurde in einem Carrara-Steinmetzatelier, in Kooperation mit Ilya und Emilia Kabakov, hergestellt. Mit seinem Aufbau, Standort und der integrierten Funktion bietet das Werk eine Art «Bühne». Benutzer:innen stehen auf den leicht erhöhten Betonsockel und Trinken, wodurch sie zu Akteur:innen werden, wie beim Theater. Durch den Einbezug der Umgebung ist das Werk auch eine Installation.
Das Kunsthaus Zug zeigte die von der Kunsthalle Bielefeld organisierte, erste Retrospektive von Ilya und Emilia Kabakovs Architekturprojekten. Seit seiner inoffiziellen künstlerischen Tätigkeit in Moskau (Ende der 1950er Jahre) entwickelte Ilya literarische und gezeichnete Konzepte von Räumen. Seit der Zusammenarbeit mit seiner Frau Emilia (ab 1989) gelang Ilya verstärkt zur präzisen Konkretisierung und Realisierung seiner Bauideen – wodurch sich ein Spannungsfeld zwischen der Verwandlung realer Zustände in architektonischer Ausführung und fiktiven Räumen aufzutun scheint. Ausgestellt wurden rund 40 Modelle und über 400 Zeichnungen, in denen ihre Architekturprojekte visuell nachvollziehbar wurden. Zu den unverwirklichten Hauptwerken zählt beispielsweise die «Utopische Stadt», ein Entwurf zur Transformation der gesamten ehemaligen Kokerei der Zeche Zollverein, Essen. Die Ausstellung wurde von Ilya Kabakov selbst eingerichtet.
Anlässlich der in Bielefeld (2004), Zug (2005) und London (2005) gezeigten Ausstellung erschien 2004 eine Publikation im Kerber Verlag: «Ilya & Emilia Kabakov. Die Utopische Stadt und andere Projekte».
Das Kunsthaus Zug lud Ilya (gest. 2023) und Emilia Kabakov ein, im Zusammenhang mit der geplanten Kunsthaus Erweiterung, ein Sammlungsarchiv zu entwerfen. Ihre Idee, «The Museum’s Archive», ist eine lebendige, geheimnisvolle Schatzkammer für Jung und Alt, wo Verborgenes für einige Augenblicke ans Licht kommt, um dann wieder abzutauchen ins schützende Dunkel des Archivs. Die architektonische Kunstinstallation stellt sich in den Dienst einer wichtigen Museumsaufgabe: Der Lagerung und Vermittlung von Kunst. Obschon auch hier selbstverständlich nicht der gesamte Sammlungsbestand des Kunsthaus Zug gezeigt werden kann, bietet das «Museum’s Archive» mehr Raum, um Kunstwerke – auf einzigartige Weise – zu erfahren.
Um das Realisierungspotential des Projektentwurfs zu prüfen, hat das Architekturbüro Guntli Architektur GmbH, in Zusammenarbeit mit Ilya und Emilia Kabakov, das Projekt weiter konkretisiert. Die Machbarkeitsstudie zeigte, dass die technische Umsetzung gegeben ist. Die erforderliche Erschliessung unter der Stadtmauer hindurch fand bei der kantonalen Denkmalpflege keine Zustimmung.
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Konzept der Installation
Die Schwierigkeit bei der Darstellung einer Ausstellung besteht darin, dass unabhängig davon, wie wenige Objekte wir tatsächlich in einem bestimmten Raum zeigen, die Aufmerksamkeit des Betrachters zerstreut wird, weil sich zu viele Informationen im Bereich seiner Aufmerksamkeit befinden. Wie kann diese Konzentration der Anziehungskraft gesteigert werden, wie kann vom Betrachter erwartet werden, dass er sich nur auf eine Sache konzentriert? Das vorgeschlagene Projekt soll dieses Problem lösen. Ausstellungsobjekte füllen alle Kabinen in einer hohen, länglichen Struktur, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckt. Die Stirnwand jeder Kabine ist mit dunklem Glas verkleidet, so dass die gesamte Struktur wie eine feste dunkle Fläche aussieht. In einer der Kabinen wird langsam ein Licht eingeschaltet und das darin befindliche Objekt (eine Skizze, ein Gemälde, eine Skulptur) wird beleuchtet, dann wird in einer anderen Kabine ein Licht eingeschaltet, während das Licht in der ersten langsam erlischt. So verwandelt sich die gesamte Wand in eine magische Performance, in der die im Archiv aufbewahrten Kunstwerke erst hier, dann dort aus der Dunkelheit auftauchen. Gegenüber der "Wand" befinden sich zwei Reihen von Bänken, auf denen der Betrachter sitzen und sich auf jedes Fragment dieser Performance konzentrieren und dem Zustand des "Touristen" entfliehen kann, der gerade vorbeiläuft.
Beschreibung der Installation
Der Hauptblock der Lagerkabinen ist ein unregelmäßig geformtes langes Rechteck. Von außen sieht es aus wie ein massiver schwarzer Block vom Boden bis zur Decke, um den der Betrachter herumläuft und der sich am Ausgang windet. Dieser schwarze Block (der in seiner Erscheinung ein wenig dem heiligen Felsen "Kaaba" in Mekka ähnelt) befindet sich unter der Erde und ist in einem Zementraum mit abgerundeten Kanten enthalten. (Die Wände werden mit einer vertikalen Form aus Zement hergestellt.) Es gibt zwei Türen in das geplante zukünftige Lagerhaus und zwei Türen zur Straße als Notausgänge. Im Inneren des Blocks befindet sich ein Korridor für die Mitarbeiter. In jeder Kabine gibt es ein Regal und eine individuelle Lampe. Die Lampe ist Neonlampe, sie wird nicht heiß und sie bleibt gedämpft, um die Arbeit, die sie beleuchtet, nicht zu ruinieren. Der Titel des Werkes, der Name des Autors und ein Kommentar sind oben in jeder Kabine beleuchtet. Ganz oben in der gesamten Einheit befinden sich Texte, die das Thema und die Auswahl der Objekte in einer bestimmten Gruppe von Kabinen erklären. Die Größe jeder Kabine beträgt 62 x 62 cm. Die Platte über jeder Kabine für den Text ist 10 cm groß, und die Dicke der Trennwände beträgt 0,25 cm. Es wird vorgeschlagen, im Park über dem unterirdischen Archiv eine runde Öffnung zu schaffen, die von einer Betonbarriere umgeben ist. Die Betrachter konnten einen Blick hineinwerfen und unter die halbbeleuchteten Vitrinen und die darin enthaltenen Objekte blicken.
Ilya & Emilia Kabakov
Ilya Kabakov (1933–2023) war bis zu seinem Wegzug aus der Sowjetunion einer der erfolgreichsten Kinderbuchillustratoren seines Landes. Neben dieser offiziellen Tätigkeit, die einer strengen zensurartigen Aufsicht unterstand und hauptsächlich zum Broterwerb diente, entstanden seit den 1960er Jahren inoffiziell eigene künstlerische Arbeiten. Mit ihnen wurde Kabakov im Westen weltberühmt.
Mit der Ausstellung im Kunsthaus Zug wurde sein frühes illustratives Schaffen, nach der Museumstournee in Japan, erstmals in Europa exklusiv vorgestellt. Zu sehen waren zahlreiche Bücher und rund dreihundert Originalentwürfe des Künstlers aus seinem eigenen Bestand. Kabakov richtete die Ausstellung ein, die damit selbst zu einer installativen künstlerischen Arbeit wurde. Die Kinderliteratur hatte in der Sowjetunion anders als im Westen auch für Erwachsene einen hohen Stellenwert. Namhafte bildende Künstler und Autoren befassten sich deshalb mit diesem Genre. Kabakovs eigener Kunstbegriff war stets stark von dieser fremdbestimmten Arbeitssituation in der Sowjetunion geprägt.
Seine Werke suchen den Dialog mit den verschiedenartigen Betrachter:innen. Die Ausstellung der Kinderbücher kann deshalb vielschichtig verstanden werden: als «Fest» fantasievoller Zeichenkunst ebenso wie als komplexe, doppelbödige Darstellungswelt, hinter der sich menschliche Sehnsüchte verbergen. Das auffallend viele Weiss seiner Zeichnungen vermittelt der Fantasie einen Freiraum inmitten der vorgegebenen Bildwelt.
Anlässlich der Ausstellung erschien ein rund fünfhundertseitiges, reich bebildertes und von Ilya Kabakov gestaltetes Werkverzeichnis seiner Künstlerbücher im Kerber Verlag.
Das Buch spielt im Werk von Ilya Kabakov von Beginn an eine zentrale Rolle. Zunächst erfolgreich als Kinderbuchillustrator in der Sowjetunion tätig, entwickelte er seine bildkünstlerische Tätigkeit vom Buch aus. Es ist für Kabakov stets unverzichtbarer Begleiter geblieben. Zum einen werden darin neue Projekte präsentiert, zum anderen nach erfolgter Realisation in diesem Medium dokumentiert. Das Buch begleitet Kabakovs bildnerisches Werk aber nicht nur, auch bildkünstlerisch spielt es für ihn seit jeher eine zentrale Rolle. Wie immer bei Kabakov lassen sich Kunstpraxis und Diskurs hier nicht trennen. Das gilt auch für diesen Œuvrekatalog, der sich ebenso als paradoxe Konstruktion erweist − wissenschaftliches Verzeichnis und Künstlerbuch ist und damit wiederum ein Bestandteil jenes Œuvres, das er zusammenfasst. Zugleich ist er Teil und Ganzes.
Die Publikation erschien anlässlich der Ausstellung «Ilya Kabakov – ORBIS PICTUS. Der Kinderbuchillustrator als eine soziale Figur», welche vom 21. März bis 20. Juni 2010 im Kunsthaus Zug gezeigt wurde.
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Projekttitel: Ilya Kabakov, Artist Books / Künstlerbücher, 1958-2009, Catalogue Raisonné Herausgeber: Matthias Haldemann / Kunsthaus Zug Konzeptuelles Design: Ilya Kabakov Gestaltung: Ilya Kabakov, Polina Bazir Einleitung: Matthias Haldemann Text: Dialog mit Ilya Kabakov, von Matthias Haldemann Bearbeitung: Nicole Seeberger, Marco Obrist, Matthias Haldemann Redaktion: Marco Obrist, Emilia Kabakov, Monika Kümin Erschienen: Kerber Verlag, Bielefeld, Leipzig, Berlin, 2010 ISBN: 978-3-86678-372-0
1985 stand Ilya Kabakov mit Freunden in einem Wald bei Moskau und durchschnitt feierlich ein Band. So eröffnete er symbolisch die Ausstellung in der Berner Kunsthalle, seine erste im Westen. Auch wenn er selbst nicht hatte anreisen dürfen: Jetzt galt er «offiziell» als Künstler. Die Schweiz blieb in der Folge ein wichtiger Bezugspunkt für Ilya Kabakov, wo er Förderer fand und Freundschaften wuchsen. Diese Entwicklung spiegelt sich in hiesigen Sammlungen, aus denen die Ausstellung «Ich beginne zu vergessen» schöpfte. Zu sehen waren Gemälde von 1965 bis 2010, darunter grossformatige Hauptwerke aus den Siebzigern und die 14-teilige Serie «Collage of Spaces» (2010). Auf diesen Ölgemälden tauchen vermeintliche Fetzen sowjetischer Propagandamalerei in schwarze Abgründe, als ob unliebsame Erinnerungen endlich entsorgt werden könnten. Hinzu kamen seine stilbildenden Alben, Leporellos und die erste im Westen gezeigte Installation «Konzert für eine Fliege (Kammermusik)». Aus Zuger Privatbesitz ferner eine Reihe von Papierarbeiten der russischen Avantgarde (Kasimir Malewitsch, El Lissitzky u.a.), mit denen sich Kabakov alias Charles Rosenthal malerisch seit längerem humorvoll auseinandersetzte.
Heute ist die Wahrnehmung von Ilya Kabakov paradox. Einerseits galt er bis zu seinem Tod im Jahr 2023 als einer der wichtigsten Künstler der Gegenwart. Dies nicht zuletzt, weil die inoffizielle Kunst der Sowjetunion durch ihn nachträglich den Anschluss an die Kunstgeschichte des Westens gefunden hat. Andererseits wagen wir zu behaupten: Trotzdem wird Ilya Kabakov noch immer unterschätzt. In ihrer erzählenden Haltung sind die Bilder zugänglich, obwohl sie stets die Frage in sich tragen: Wer hat hier für wen, wann und wo gemalt und weshalb?
Ilya (gest. 2023) und Emilia Kabakov aus New York sind nach mehreren Kooperationen mit dem Kunsthaus Zug keine Unbekannten in der Region. Für das Teilhabe-Projekt «The Ship of Tolerance» kamen sie 2016 erneut nach Zug. In einer schwierigen weltpolitischen Lage und besonders vor dem Hintergrund der weltweiten Flüchtlingsproblematik, wollte das international renommierte Künstlerpaar aus der ehemaligen Sowjetunion Menschen verschiedener Kontinente und Kulturen durch die Sprache der Kunst verbinden – ein Vorhaben, welches das Kunsthaus Zug und alle involvierten Partner:innen bereitwillig unterstützten. Grundidee von Ilya & Emilia war es, ein hölzernes Schiff für den Zugersee zu bauen, welches mit rund 120 von Teilnehmenden bemalten Segelbildern zum Thema Toleranz beflaggt werden würde. Insgesamt wirkten rund 2500 Menschen am Projekt mit. Als Gemeinschaftswerk wurde «The Ship of Tolerance» zugleich Inbegriff und monumentales Sinnbild der Toleranz, Offenheit und Respekt. Das Werk sollte seine Beobachter:innen zum Nachdenken animieren und erinnerte zugleich an die Arche Noah. Es sollte Diskussionen anregen, verschiedene Kulturen zusammenbringen und erdumspannend verschiedene Länder und Kontinente, wo «The Ship of Tolerance» vorher und nachher realisiert wurde, miteinander verbinden (begonnen wurde es in Siwa, Ägypten, im Jahr 2005). So gliederte sich das Projekt in Zug in eine internationale Vernetzung ein. Ausführliche Informationen sowie eine Übersicht der bisherigen Orte sind auf der Webseite der Ilya & Emilia Kabakov Stiftung zu finden: ↗https://shipoftolerance.org/
Im Rahmen des Projektes in Zug haben über 117 Klassen öffentlicher und privater Schulen aus dem Kanton Zug das Thema Toleranz im Unterricht diskutiert und behandelt. Gemeinsam mit dem Team der Kunstvermittlung, geleitet von Sandra Winiger, und über 50 freiwilligen Helfer:innen aus unterschiedlichsten sozialen Zusammenhängen visualisierten Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Botschaften zu Toleranz und Respekt in gemalten Segelbildern. In diesen Workshops, im Juni 2016 durchgeführt, entstanden über 940 Segelbilder. In einem nächsten Schritt wurden 120 dieser bemalten Segel zum Schiffssegel zusammengefügt, während die restlichen rund 800 Segelbilder für diverse Standorte kuratiert wurden, denn auch sie sollten zeitgleich mit dem fertigen «Ship of Tolerance» ausgestellt werden. Im August wurde das Schiff von der englischen Kabakov-Crew, zusammen mit Erwerbslosen der GGZ@Work (Gemeinnützige Gesellschaft Zug) und Zuger Schreiner-Lehrlingen im Hafen gebaut.
Die Eröffnungsfeier fand am 10. September 2016 an der Zuger Seepromenade (unterhalb der Rössliwiese) statt. Mittels Pneukran wurde das Schiff, auf einem Ponton, gewassert. An diesem «Fest der Toleranz», moderiert von Sandra Winiger, sprach Emilia Kabakov darüber, dass die Kinder – die Haupt-Leidtragenden von Intoleranz und Gewalt der Erwachsenen – im Mittelpunkt stehen. Weiter sprachen Dolfi Müller (Stadtpräsident), Dr. Matthias Haldemann (Direktor des Kunsthaus Zug), Prinzessin Alia Al Senussi (Botschafterin von Toleranz, London) und die Kinder aus dem Schulhaus Guthirt. In der ganzen Stadt – am Kunsthaus, auf dem Kolin-, Post- und Bahnhofplatz, beim Regierungsgebäude, am Alpenquai und bei der Schützenmatte – sowie im Villette Park in Cham und in den anderen Gemeinden des Kantons wurden die bunten Segelbilder prominent gezeigt. Als Informationszentrum diente das am Alpenquai stationierte Kunsthaus Zug mobil.
Am folgenden Tag reiste das Schiff nach Cham, für die dort stattfindende Einweihung der Skulptur «Once Upon a Time (Ship Totem)» des New Yorker Künstlers Marko Remec im Villette Park. Remec, ein Freund von Ilya und Emilia Kabakov, schuf diese Arbeit speziell für «The Ship of Tolerance» Projekt in Zug. Georges Helfenstein (Gemeindepräsident) und Dr. Richard T. Meier (Präsident Zuger Kunstgesellschaft) hielten Ansprachen. Eine Performance vom Tänzer Neopost Foofwa erfolgte auf Wasser und Land. Am Abend spielten begabte junge Musiker:innen aus aller Welt im Lorenzsaal das Ship of Toleranz-Konzert, bei dem Stephan Schleiss (Regierungsrat) und Emilia Kabakov anwesend waren. Das Konzert wurde von der Kabakov Stiftung veranstaltet, in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Zug. Gemeinsam mit der Kindertrachtentanzgruppe Ägerital, Schwyzerörgeli- und Akkordeonschüler:innen der Musikschule Cham sowie dem Stärnechor, Stars and Young Voices der Musikschule Unterägeri standen sie auf der Bühne, wodurch ein einzigartige Verschmelzung von Klassik und Volksmusik, -tracht und -tanz aus nah und fern zustande kam.
Danach kam das Schiff zurück nach Zug, wo es bis zum 13. Oktober ankerte. An einem Sonntagabend wurde eine Mahnwache abgehalten, um den toten Kindern, Frauen und Männern zu gedenken, die auf der Flucht nach Europa ihr Leben verloren haben. Während Wochen folgten viele Aktivitäten der Partner:innen, beispielsweise der «Table of Tolerance» im Podium 41 in Cham. Dieses Projekt, eine Kooperation von GGZ@Work mit Ilya und Emilia Kabakov und dem Kunsthaus Zug, verband gemeinsame Mittagessen mit diversen bekannten Gästen, die über ihr Erfahrungen mit Toleranz und Respekt sprachen.
Auf Einladung wurde «The Ship of Tolerance» im Herbst als Sonderschau an der Zuger Messe im Hafenareal präsentiert. Die 80'000 Messe-Besuchenden konnten nun das Schiffssegel aus nächster Nähe betrachten und das Schiff erstmals betreten. Im Rahmen der Messe fand ein Podiumsgespräch statt, mit Dolfi Müller (Stadtpräsident), Samir (Filmemacher), Marco Meier (Moderator) und Dr. Matthias Haldemann (Direktor des Kunsthaus Zug).
Danach war das «Ship of Tolerance» für fünf Jahre im Gebiet Brüggli am Zuger Seeufer stationiert, wo es für diverse Veranstaltungen (z.B. weitere Segelbild-Mal-Sessions) genutzt wurde und sich grosser Beliebtheit erfreute. Am 25. September 2021 fand ein grosses Fest statt, um die Finissage des Projekts zu feiern. Das Kunsthaus Zug und der Verein «FRW Interkultureller Dialog» luden alle ein, für eine interkulturelle kulinarische «Teilete» Spezialitäten aus dem eigenen Land mitzubringen. Emilia Kabakov war via Zoom aus Dallas zugeschaltet.
«The Ship of Tolerance» von Zug erhielt auf internationaler Ebene Aufmerksamkeit: Die «Financial Times» und die «Washington Post» berichteten über das Werk und in den sozialen Medien erreichten Bilder über eine Million Klicks aus der ganzen Welt. Eine Abbildung wurde jüngst in einem japanischen Schulbuch publiziert. Das Teilhabe-Projekt ist in einem Dokumentarfilm von Remo Hegglin festgehalten.
Zum Dank für das grosse Projekt in Zug haben Ilya & Emilia Kabakov dem Kunsthaus Zug die Installation «Toilet in the Corner» (2002) geschenkt.
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Fotograf:innen: Jorit Aust, Oliver Baer, Daniel Hegglin, Remo Hegglin, Jens Krauer, Luis Eduardo Martinez Fuentes, Angela Nussbaumer, Peter Raiman, Hans Schiess.
Ilya Kabakov gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Installationskunst. Erste raumbezogene Werke realisierte er in seinem geheimen Studio in Moskau und konnte sie nur seinen Freunden zeigen. Nach seiner Ausreise in den Westen bekam er die Gelegenheit, Installation in Ausstellungen in Bern, New York, Paris usw. zu realisieren und die ersten Ideen aus Moskau nun mit seiner Frau Emilia zu einer «eigenen Welt» der Fantasie zu erweitern. Angefangen mit schäbigen Zimmern fiktiver Sowjetbewohner:innen reicht das Spektrum der Installationen bis zur «utopischen Stadt», die im Grand Palais in Paris temporär gebaut wurde. In Zug steht der Trinkbrunnen «Drinking Fountain» vor dem Bahnhof und spendet den Reisenden frisches Quellwasser. Auch diese Skulptur ist eine Installation, da die Umgebung mit den Menschen bewusst einbezogen ist.
Der dritte Band des Werkkatalogs der Installationen, der von Matthias Haldemann und dem Kunsthaus Zug im Auftrag der Kabakovs herausgegeben wurde, ist ein wissenschaftliches Verzeichnis von über 40 Werken, aber auch ein Kunstwerk. Ilya Kabakov hat die Gestaltung konzipiert. Darum gehört es auch zu seinen vielen Künstlerbüchern, deren Gesamtverzeichnis ebenfalls von Matthias Haldemann und vom Kunsthaus Zug ediert wurde. Typisch für die Kunst der Kabakovs gehört alles mit allem zusammen. Das eine führt zum andern und wird dabei immer wieder anders gesehen und verstanden, ist «real» und «fiktiv».
Noch einmal hat sich Ilya Kabakov in diesem Werkverzeichnis über seine Kunst der Installation in einem langen Text theoretisch geäussert. Zudem erzählt das Künstlerpaar darin über das «Geheimnis» ihrer Zusammenarbeit.
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Projekttitel: Ilya Kabakov, Installations 1983–2017, Catalogue Raisonné, Band III, 2000–2017. Herausgeber: Matthias Haldemann / Kunsthaus Zug Konzeptuelles Design: Ilya Kabakov Gestaltung: Ilya Kabakov, Polina Bazir Texte: Ilya Kabakov, Matthias Haldemann, Robert Storr Bearbeitung: Isabelle Zürcher, Emilia Kabakov Redaktion: Matthias Haldemann, Emilia Kabakov, Matthew Jesse Jackson, Jill Silverman Erschienen: Kerber Verlag, Bielefeld, Berlin, 2017 ISBN: 978-3-7356-0364-7
Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges zeigte das Kunsthaus Zug die raumgreifende Installation «THE LAST STROKE or The Monument to the Last Man» (2019) des US-amerikanischen Künstlerpaars Ilya und Emilia Kabakov. Im Rahmen der Gruppenausstellung «DIVERSITY UNITED: Zeitgenössische Kunst aus Europa» war die Installation zuerst in Berlin am Flughafen Tempelhof und anschliessend in Moskau ausgestellt. (Siehe hierzu die Publikation: «DIVERSITY UNITED: Zeitgenössische Kunst aus Europa. Moscow. Berlin. Paris.», hrsg. von Walter Smerling, Köln, Wienand Verlag, 2021.) Kurzfristig, wegen des Krieges, musste die Installation in der Moskauer Tretjakow-Galerie abgebaut werden; sie fand den Weg über Helsinki nach Zug. Im Kunsthaus Zug wurde sie zum Internationalen Museumstag unter dem Motto «The Power of Museums» eröffnet. An diesem Tag wurden auch Kinderbilder aus Workshops mit ukrainischen Flüchtlingen im Kunsthaus Zug und Kinderbilder aus der Ukraine, im Beisein von Emilia Kabakov, ausgestellt.
In «THE LAST STROKE or The Monument to the Last Man» befindet sich ein kleines Boot, samt dessen Ruderer, in einer bedrohlichen Lage: Der Mensch scheint mit vollem Körpereinsatz zu rudern, doch seine Beine und das Boot wurden bereits vom tobenden Wasser erfasst und sind unter der Wasseroberfläche verschwunden – in gleichem Masse werden Werk-Betrachter:innen von einem Gefühl der Dringlichkeit ergriffen. Ob Mensch und Boot im nächsten Augenblick gänzlich von der hohen Welle heruntergerissen werden? Die Situation des Bootes scheint beinahe aussichtslos. Doch es gibt noch Hoffnung. Zum einen kämpft der Mensch mit aller Kraft entschieden gegen das ihm drohende Schicksal, zum anderen kreisen fünf kleine Engelsfiguren als Lichtgestalten um die dramatische Szene. In der bisherigen Menschheitsgeschichte triumphierte die Widerstandsfähigkeit. Die Hoffnung bleibt.
Das Werk ist eine Schenkung des Künstlerpaars an das Kunsthaus Zug.